Sozialraumorientierung

Normalerweise leben Menschen nicht für sich alleine. Sie leben in Familien, Nachbarschaften, Quartieren, Dörfern und Städten. Die Art, wie sie wohnen und der Ort ihres Wohnens haben Einfluss auf das je persönliche Empfinden und das soziale Miteinander. Konkrete Lebenssituationen können Quelle von Zufriedenheit, aber auch Ursache von Veränderungswünschen sein.

Solche Lebenssituationen, wie immer sie auch bewertet werden, sind für Menschen wichtig, prägen sie doch deren Alltag, stellen ihnen Möglichkeiten zur Verfügung oder beschränken auch die Entfaltungschancen. Gutes Leben gelingt unter solchen Bedingungen umso besser, je eher Menschen für sich eine Zufriedenheit entwickeln können, je eher sie die eigene Situation zum Positiven verändern können, je eher sie für ihre Anliegen Unterstützung finden.

Gutes Leben – das ist auch der Kern der Reich-Gottes-Botschaft Jesu: „Ich bin gekommen, dass die das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh, 10,10). Gutes Leben – das ist ein konkretes Projekt an einem konkreten Ort. Dabei geht es nicht um normative Vorgaben, wie ein solches Leben aussehen soll. Menschen bringen selbst zum Ausdruck, wozu sie in diesem Leben unterwegs sind, was sie sich für ihr Leben zutiefst erhoffen.

 

Auf diesem Hintergrund bekommt das aus der Sozialen Arbeit stammende Konzept der Sozialraumorientierung für die Pastoral eine neue Bedeutung. Vorausgesetzt ist dabei, dass unter Pastoral keineswegs alleine das Tun von kirchlichen Hauptamtlichen verstanden wird, sondern mit dem II. Vatikanum grundlegend das Verhältnis der Kirche zur Welt und zu den Menschen (allen Menschen!) von heute.

Und so kann SRO funktionieren:

  1. Am Anfang steht eine Entscheidung: wirklich wissen zu wollen, was Menschen suchen und für ihr Leben brauchen; sich darauf einlassen zu wollen und mit ihnen aktiv zu werden. Das heißt zunächst Abschied zu nehmen von eigenen inhaltlichen Prämissen, nämlich schon zu wissen, was gut für andere ist. Das Ganze ist also ein ernstgemeinter Suchprozess nach dem Guten und Besseren.
    Als kirchliche Akteuere leitet dabei die Aussicht, dass in diesem Suchen sich zeigen wird, wie uns darin das Evangelium vom Leben entgegenkommt. Als kirchliche Akteure sind wir darin Lernende, was dieses Evangelium uns heute zu sagen hat, wie wir es verstehen können, wie es uns verändern kann.
    So wird Sozialraumorientierung zu nichts anderem – theologisch gesprochen – als zu einem notwendigen Umkehrprozess: abzulassen vom Besser- und Bescheidwissen; zuzulassen, dass ein solcher Weg verunsichert, ja ängstigen kann; sich einzulassen auf das Abenteuer der Nachfolge.
    Eine solche Entscheidung kann auch wachsen. Wer sich auf die Schritte der Sozialraumorientierung einlässt, sie als spirituellen Weg begreift, sie als einen Weg zu konkreten Menschen sieht, dabei die eigenen inneren Bewegungen reflektiert, sie auf dem Hintergrund der Guten Botschaft zu verstehen sucht, den kann mittendrin im Tun entdecken, dass er dabei in den Spuren Jesu unterwegs ist.
    Sozialraumorientierung ist damit ein Synonym für eine Hinwendung zum Einzelnen, für ein echtes Interesse am Individuum. Das mag auf vielen Wegen erreichbar sein, als konzeptionelle Strategie ist die Sozialraumorientierung bisher unerreicht.
    Schnell wird einsichtig, dass ein echtes Setzen auf Sozialraumorientierung die Organisation „Kirche“ mit verändern wird, ihr institutionelles Gewordensein, ihre Routinen, ihre Plausibilitäten, ja auch ihre Theologie.
  2. Wenn eine solche Grundhaltung zumindest als Möglichkeit plausibel erscheint, dann sind die Schritte der Sozialraumorientierung einfach und überschaubar.
    1. Überlege mit den Mit-Akteueren, wo ihr einen Fokus hin legen wollt. Entscheidet euch für einen Sozialraum, der euch herausfordert und euch das Gefühl gibt, vom Evangelium her exemplarisch am richtigen Ort zu sein.
      Sozialraum ist dann nicht die ganze Stadt, sondern eher ein Quartier, weniger ein Stadtteil, eher eine geografisch abgrenzbare und überschaubare Größe eines sozialen Nahraums. Ein solcher Sozialraum lässt sich anhand einfacher Kriterien (natürliche und künstliche Grenzen, Bebauungsformen, historische Strukturen) beschreiben und definieren. Möglicherweise hat die Kommune in ihrer Sozialberichterstattung bereits Sozialräume definiert, an denen ihr euch orientieren könnt.
    2. Die statistischen Daten für einen Sozialraum können dazu helfen, einen ersten Blick auf die spezifischen Problemlagen, Themen und Herausforderungen zu gewinnen. Die Statistik dient dazu, Hypothesen zu generieren, die dann im nächsten Schritt überprüft werden können.
    3. In der Herangehensweise auf einen Sozialraumerkundung hat sich ein Set von Zugängen als erprobt gezeigt:
      1. Befragung von Bewohnerinnen und Bewohner im Siedlungsgebiet auf der Straße
      2. Interviews von Schlüsselpersonen im Sozialraum: Ladenbesitzer, Hausmeister, etc.
      3. Interviews von Vertretern von Institutionen: Schule, Kindergarten, Wohnungsgesellschaft, Kommune, etc.
      4. Untersuchung der Kommunikationsangebots der Siedlungsstruktur: Schilder, Ge- und Verbote, Gestaltung des öffentlichen und privaten Raumes
    4. Diese Zugänge werden dokumentiert in Fotos, typischen Aussagen, geäußerten Bedarfen. Die unterschiedlichen Zugänge werden zusammengeführt und zu einem Hypothesengeflecht zusammengebunden. Idealerweise werden diese Hypothesen mit Vertreterinnen und Vertretern des Sozialraums diskutiert und darin auch verändert.
    5. Gemeinsam mit anderen Akteuren im Sozialraum wird eine aktivierende Befragung gestartet: Wofür möchten die Bewohnerinnen und Bewohner sich selbst einsetzen? Welche Unterstützung erhoffen sie sich dafür? Wer könnte für die anstehenden Veränderungen noch gute Beiträge hinzusteuern?
    6. Anschließend werden in Versammlungen im Sozialraum Projekte gemeinsam abgesprochen und das Vorgehen festgelegt.
    7. Alle beteiligten Akteure verhandeln miteinander darüber, wie sie die zur Verfügung stehenden und gestellten Ressourcen im Sinne der vereinbarten Ziele einsetzen. Dazu bilden sie eine netzwerkförmige Organisationsform aus, die miteinander gestaltet und steuert, aber von keiner der beteiligten Akteure dominiert wird. Miteinander wird das „Prinzip der Augenhöhe“ gelebt.
    8. Das gesamte Vorgehen ist von Anfang an daran ausgerichtet, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Sozialraums in ihren Handlungskompetenzen gestärkt werden und möglichst viel durch sie selbst gestaltet wird. Alle von außen hinzukommenden Ressourcen dienen dem einen Ziel, die Selbstgestaltungskompetenz „groß“ werden zu lassen.
    9. In regelmäßigen Abständen werden die erzielten Ergebnisse überprüft und gegebenenfalls weiterentwickelt.

Und was können kirchliche Akteure in solchen Prozessen lernen?

  • Sie können sich überprüfen, in welcher Motivation sie sich auf solche Prozesse einlassen. Geht es eher darum, die eigenen Angebote zu platzieren, Mitarbeitende zu rekrutieren, Refinanzierungstöpfe anzuzapfen? Oder geht es um etwas anderes? Hier braucht es eine große Ehrlichkeit, die immer wieder Maß nimmt am Tun Jesu.
  • Sie können herausfinden, wie die Lebensthemen von konkreten Menschen eines Sozialraums mit dem Evangelium vom Leben in Zusammenhang stehen. Maßstab dafür ist nicht eine erwartbare Frömmigkeit, sondern das sich ganz einlassen auf die Menschen und ihre Situationen, das interessierte Fragen, um wirklich verstehen zu wollen, die Spurensuche nach dem, was Gottes Anruf in dieser Situation sein könnte.
  • Sie können lernen, ihre Ressourcen (Engagement, Räume, Geld, Ideen, etc.) wirklich zu teilen und dabei die Erfahrung zu machen, dass das Teilen nicht arm macht, sondern vielfältig bereichern kann.
  • Sie können lernen, nicht in Besitztümern („unsere“ Pfarrei, „unser“ Territorium) zu denken, sondern von den Lebens- und Sozialräumen der Menschen her. Alles „Haben“ dient dem einen Auftrag, mitzuwirken am Reich Gottes.
  • Sie können lernen, die eigene Tradition neu zu buchstabieren, sich von manchem zu verabschieden, damit Platz für Neues werden kann.
  • Sie können lernen, den Schatz der Bibel zu kontextualisieren, ihn durchzubuchstabieren auf dem Hintergrund gelebten Lebens.
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